Die regulatorische Landkarte der Energiewirtschaft ist in den letzten Jahren immer komplexer geworden. Insbesondere für Kohlekraftwerke haben sich im Zuge parallel stattfindender Prozesse einige Unstimmigkeiten und Widersprüche eingeschlichen. Hier ein Versuch, ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen.
Im energiewirtschaftlichen Zieldreieck aus Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltschutz hat die Komponente Umwelt- und Klimaschutz an Bedeutung gewonnen – doch nicht ohne Widerstand, beispielsweise bei Kohlekraftwerken. An vielen Ecken und Enden von Gesetzen und Verordnungen wurde geschraubt, um Kompromisse für komplexe Fragen mit gesellschaftlicher Relevanz zu finden.
Die Verbrennung von Braunkohle und Steinkohle verursacht bekanntermaßen Emissionen von Kohlenstoffdioxid (CO2), aber es werden auch andere umweltschädliche Gase ausgestoßen. Die Gesetzgeber auf EU-Ebene haben in 2017 die Emissionsgrenzwerte für Großfeuerungsanlagen (also insbesondere Kraftwerken) erneuert. Diese Grenzwerte betreffen u. a. Stickoxide, Schwefeldioxid, Staub und seit 2017 zum ersten Mal auch Quecksilber.
Die neuen Grenzwerte (vgl. Tabelle 1) wurden als Durchführungsbestimmung 2017/1442 am 31.07.2017 gegen die Stimmen der Deutschen Bundesregierung, Polen, Bulgarien und Tschechische Republik beschlossen und sind ab August 2021 einzuhalten. Die Bundesregierung hielt die Grenzwerte z. B. für Stickoxide für zu streng und „nicht sachgerecht“ und stützte sich dabei auf Einschätzungen des Umweltbundesamtes. [1]
Neue Grenzwerte EU-weit ab 2021
In der folgenden Tabelle ist übersichtlich dargestellt, wie die Grenzwerte bislang im Bundes-Immissionsschutzgesetzes vorgegeben sind und welche Änderungen ab 2021 gelten. (siehe Tabelle 19
Die Grafik 1 zeigt, dass ein Teil der deutschen Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke die neuen Grenzwerte einhalten, einige sie aber auch deutlich überschreiten. (Die Kohlekraftwerke Buschhaus und Frimmersdorf sind mittlerweile in die Sicherheitsbereitschaft übergegangen und nicht mehr in Betrieb. Die Stadt Leipzig hat im November 2019 beschlossen, die Fernwärmenutzung aus dem Kraftwerk Lippendorf bis 2023 zu beenden.)
Die Übertragung der EU-Vorgaben in den nationalen deutschen Rechtsrahmen hätte durch eine Änderung der 13. Bundesimmissionsschutz-Verordnung (BImSchV) innerhalb eines Jahres durchgeführt werden müssen. Es passierte aber nichts.Stattdessen drängten die Bundesländer Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen die damalige Bundeswirtschaftsministerin Zypries, eine Nichtigkeitsklage bei der EU anzustrengen. Als der Bund ablehnte, schloss sich im Februar 2018 der Freistaat Sachsen einer Klage der Kohleverbände Debriv und Eurocoal sowie der Stromerzeuger Leag und Mibrag gegen die „rechtswidrig zustande gekommenen EU-Vorgaben“ an. [6]
Kohleausstieg in Deutschland beschlossen
Im Juni 2018 wurde die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (auch als „Kohlekommission“ bekannt) gegründet, um einen breiten politischen und gesellschaftlichen Kompromiss über die Art und Weise des Kohleausstiegs (d. h. dem schrittweisen Schließen von Kohlekraftwerken) zu finden. Diese Verhandlungen fanden u. a. unter den Eindrücken massiver Klimaschutzproteste am Hambacher Forst im Herbst 2018 statt und endeten mit der Veröffentlichung des Abschlussberichts am 26.01.2019. Darin ist ein Kohleausstieg mit zwei Stufen (2030 und 2038) beschrieben sowie ein Finanzierungsbedarf von 40 Milliarden Euro für den Strukturwandel (jeweils 1,3 Mrd. plus 0,7 Mrd. EUR über 20 Jahre, S. 104).
Dieser Abschlussbericht erwähnt in Kapitel 3.2.1 den oben beschriebenen EU-Beschluss für Emissionsgrenzwerte aus Kohlekraftwerken. Ebenso wird aufgeführt, dass die meisten deutschen Kraftwerke die Emissionsgrenzen für z. B. Stickoxide und Quecksilber nicht erfüllen würden, dass der EU-Beschluss noch nicht in deutsches Recht umgesetzt und noch eine Klage gegen diesen Beschluss anhängig sei.
Tatsächlich wurde diese Klage der Kohle-Verbände schon im Dezember als nicht zulässig zurückgewiesen. Fraglich ist, ob die Autoren dieses Kapitels nicht auf dem aktuellsten Stand waren oder diese Tatsache bewusst ignoriert wurde.
Entwurf für Klimaschutzplan 2050
Im Februar 2019 machte das BMU dann einen Vorstoß mit dem Entwurf eines Klimaschutzrahmengesetzes. Darin sollten die bereits im Klimaschutzplan 2050 festgelegten Klimaschutzziele für die Jahre 2030, 2040 und 2050 rechtsverbindlich festgeschrieben werden. Besonderes Novum war auch, dass die jeweils zuständigen Ministerien verantwortlich dafür sein sollten, die Emissionsziele ihres jeweiligen Sektors (Energie, Landwirtschaft, Verkehr, Gebäude) einzuhalten. Darüber hinaus sollten die Ministerien entsprechende Programme, Maßnahmen sowie Kosten für den Erwerb von Emissionszertifikaten (im Falle der Zielüberschreitung) aus ihrem Budget zahlen.
Im August 2019 kündigte das BMU an, sich mit der Umsetzung des EU-Durchführungsbeschlusses für die Emissionsgrenzwerte der Großfeuerungsanlagen in nationales Recht zu beschäftigen. Dies wiederum veranlasste mehrere Verbände, wie u. a. den BDEW, VKU, BDI und IG BCE, einen gemeinsamen „Brandbrief“ zu verfassen.
Die Verfasser beziehen sich dabei auf die Einleitung des Abschlussberichts der Kohlekommission: Darin ist zu lesen, dass die Bundesregierung sicherstellen solle, dass Änderungen des „Umwelt und Planungsrechts das erzielte Ergebnis der Kommission nicht gefährden oder unterlaufen“. Die Verfasser behaupten auch, dass für derlei niedrige Emissionsgrenzwerte, wie sie von der EU beschlossen wurde, keine einsetzbaren Technologien großflächig verfügbar seien. [7]
Kompetenzgerangel auf mehreren Ebenen
Es steht die Frage im Raum, ob die Beschlüsse einer nationalen Kommission über der durch Mehrheitsbeschluss verabschiedeten EU-Durchführungsvereinbarung stehen kann. Und wer sich im Kompetenzgerangel zum Thema Klimaschutz durchsetzt: das SPD-geführte Umweltministerium (BMU) oder das CDU-geführte Wirtschaftsministerium (BMWi).
Das BMWi arbeitet seit einer Weile am Steinkohleausstiegsgesetz. Genauer gesagt beschreibt das Gesetz, wie mit Stilllegungsausschreibungen Stück für Stück Kohlestrom-Kapazitäten aus dem Markt genommen werden sollen. Ein Entwurf wurde im September 2019 bekannt, der Kabinettsbeschluss für den November angepeilt, dann aber doch wieder verschoben. Im Entwurf ist beschriebenen, dass ab 2023 Verstromungsverbote gelten sollen, um die Vorgaben aus dem Abschlussbericht der Kohlekommission einzuhalten, falls die Ausschreibungen (also der marktorientierte Ansatz) nicht funktionieren würden.
Diese Ausschreibungen erinnern an die Ausschreibungen für verschiedene Reservekraftwerke, wie sie in § 11 und § 13 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) mit der Novellierung durch das Strommarktgesetz 2016 enthalten sind. Über verschiedene Mechanismen können Kraftwerke beispielsweise in eine Netzreserve (§ 13 d EnWG), Kapazitätsreserve (§ 13 e EnWG) oder Braunkohlereserve (Sicherheitsbereitschaft diverser Kohlekraftwerke, § 13 g EnWG) überführt werden.
Die Reserven stellen unterschiedliche Anforderungen an die Kraftwerke hinsichtlich Verfügbarkeit. Kohlekraftwerke in der „Sicherheitsbereitschaft“ haben beispielsweise zehn Tage Vorlaufzeit zuzüglich 24 Stunden zum Hochfahren, bis sie die erforderliche Nennleistung erbringen müssen.
Meilenstein „Klimapaket“
Einer der letzten Meilensteine in dieser Reihe war das „Klimapaket“, welches das Klimakabinett am 20. September 2019 beschloss und es anschließend ins Kabinett der Bundesregierung weitergereicht hat. Das Klimakabinett traf sich im März 2019 zum ersten Mal. Es besteht aus den Ministern der betroffenen Ministerien und wird von der Bundeskanzlerin geleitet.
Das Klimakabinett ist eine Idee aus dem Klimaschutzrahmengesetz des BMU und wurde direkt in die Tat umgesetzt. Eine Zusammenfassung der Beschlüsse zum Klimapaket liefern die folgenden Energy BrainBlog Artikel (Teil 1: Ziele und Maßnahmen, Teil 2: CO2-Preis, Teil 3: Gebäude und Verkehr). Allerdings: Aus den jüngsten Absichtserklärungen und Gesetzentwürfen müssen nun noch rechtlich bindende Gesetze gestrickt werden.
Was sagt der Markt dazu?
Eine andere Perspektive ist die des Marktes. Energy Brainpool beobachtet diesen kontinuierlich und fährt verschiedene Analysen. Demnach stellt sich möglicherweise bald nicht mehr die Frage, wie der Weiterbetrieb oder das Abschalten von Braunkohlekraftwerken gesetzlich geregelt werden könnte. Der Strommarkt könnte stattdessen Grund dafür werden, dass Kohlekraftwerke unrentabel und von den Betreibern selbst abgeschaltet werden.
Grund dafür wäre der sogenannte „Fuel Switch“, der besagt, dass sich die Reihenfolge von Kohlekraftwerken und Gaskraftwerken in der Merit Order des Strommarktes vertauschen. Die Merit Order ist nach Grenzkosten sortiert, wichtige Einflussfaktoren sind der Gas-Preis sowie der CO2-Preis. Der CO2-Preis für Großkraftwerke ist in den letzten zwei Jahren deutlich gestiegen und lag zwischen April und Oktober 2019 meist über 25 EUR/Tonne.
Gleichzeitig ist der Gas-Preis zwischenzeitlich auf ein historisches Tief von rund 10 EUR/MWh (thermisch) gesunken. Dies führte dazu, dass z. B. im September 2019 besonders effiziente Gaskraftwerke niedrigere Grenzkosten hatten als ältere, ineffiziente Kohlekraftwerke mit hohem CO2-Ausstoß. Der Anteil von Braun- und Steinkohle an der Stromerzeugung fiel auf 26 Prozent, während Gaskraftwerke auf 10 Prozent kamen. (Vgl. Grafik 3; mehr Details im Marktrückblick für September.) Zum Vergleich: Im Jahr 2018 lag der Anteil von Stein- und Braunkohle bei 38 Prozent und von Gas bei 7,4 Prozent. [8]
Wie wirken sich CO2-Preise auf den Strompreis aus?
In einem früheren Blog-Artikel ist die Wirkung der CO2-Preise auf den Strompreis bereits gut erklärt. Dort ist auch eine kraftwerksscharfe Merit Order abgebildet, die den Fuel Switch bei verschiedenen CO2-Preisen veranschaulicht.
Wenn die CO2-Preise weiterhin steigen, werden die Volllaststunden von Kohlekraftwerken weiter zurückgehen, die von Gaskraftwerken hingegen steigen. Ältere Braunkohlekraftwerke wären spätestens ab 2022 dann nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben sein, so die Analysen von Energy Brainpool. Der höhere CO2-Emissionsfaktor für Braunkohlekraftwerke entfaltet mit steigenden CO2-Zertifikatspreisen einen großen Hebel auf die kurzfristigen Grenzkosten. Neuere Kraftwerksblöcke hingegen würden sich noch für einen Großteil der anstehenden Dekade rechnen.
Fazit
Es bleibt also die Frage im Raum: Wer sorgt schneller für einen Kohleausstieg – der Markt oder die Regulierung? Da der CO2-Preis letztlich auch von der europäischen Politik und den Spielregeln des Emissionshandelssystems abhängt, fließen am Ende politische Entscheidungen auch über den Markt ein.
Der Preis für CO2-Zertifikate ist schwer vorherzusagen aufgrund vieler Unsicherheiten bei der Nachfrage. Viele Klimaforscher sehen den CO2-Preis allerdings als zentrales Element, um CO2-Emissionen zu reduzieren. Das Beispiel Großbritannien zeigt, wie effektiv solch ein Instrument sein kann. Dort liegt der Kohlestrom-Anteil mittlerweile bei unter 5 Prozent.
Die von der Bundesregierung geplanten Stilllegungsausschreibungen für Kohlekraftwerke haben zwar den Vorteil der besseren Planbarkeit (sofern die Ausschreibungen erfolgreich verlaufen). Aber es bleibt die Frage, ob es gerechtfertigt ist, dass Kraftwerke, die die europäisch festgelegten Grenzwerte nicht mehr einhalten, eine Kompensation für ihre Stilllegung bekommen sollten.
Das Kräftemessen zwischen den rechtlichen Rahmenbedingungen für Umwelt- und Klimaschutz auf der einen Seite und den Entwicklungen am Strommarkt auf der anderen wird in den nächsten Jahren noch andauern. Noch ist das Spiel um die Kohlekraftwerke zumindest nicht aus.
Quellen:
[1]: Kleine Anfrage der Grünen, Drucksache 18/12337, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/123/1812337.pdf
[2]: 13. BImSchV, https://www.gesetze-im-internet.de/bimschv_13_2013/13._BImSchV.pdf
[3]: Durchführungsbeschluss (EU) 2017/1442, Kapitel 2.1, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32017D1442&from=DE
[4]: Tebert, 2018, https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/kohle/kohle_stickoxid_emissionen_gutachten.pdf
[5]: European Pollutant Release and Transfer Register (E-PRTR), https://prtr.eea.europa.eu/#/home
[6]: Jörg Staude / Frankfurter Rundschau, 18.08.2018, https://www.fr.de/wissen/deutsche-kohle-gate-10969214.html; Susanne Götze, Jörg Staude / Klimareporter, 18.08.2018, https://www.klimareporter.de/strom/rechtsbruch-bei-kohle-grenzwerten
[7]: Klaus Stratmann / Handelsblatt, 23.08.2019, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/energieversorgung-durch-neue-grenzwerte-droht-ein-kohleausstieg-durch-die-hintertuer/24931966.html?ticket=ST-22945891-Btz5gWvtY0oQPubbh9fq-ap5;
Christian Schaudwet / Tagesspiegel Background, 26.08.2019, https://background.tagesspiegel.de/neue-schadstoff-grenzwerte-beunruhigen-kraftwerksbetreiber
[8]: Fraunhofer ISE, Öffentliche Nettostromerzeugung in Deutschland 2018: Erneuerbare Energiequellen erreichen über 40 Prozent, 2.1.2019, https://www.ise.fraunhofer.de/de/presse-und-medien/news/2018/nettostromerzeugung-2018.html
[9]: ENTSO-E Transparency Platform, https://transparency.entsoe.eu/
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