Während die Welt verwundert auf negative Preise an den Ölmärkten schaut, sind diese den Teilnehmern am Strommarkt lange bekannt. Doch auch die Marktergebnisse an den Strombörsen sind derzeit alles andere als gewöhnlich: Das erste Mal überhaupt fällt der Preis für eine Grundlastlieferung an einem Werktag unter null.

Was führt momentan zu diesen Preisturbulenzen und warum sind einige europäische Länder stärker betroffen als andere?

Bestandsaufnahme der aktuellen Preissituation

Blickt man auf die Ergebnisse der deutschen Day-Ahead-Auktionen an der Strombörse EPEX Spot, lässt sich schnell ein außergewöhnlich niedriges Preisniveau feststellen. Nachdem die Preise für Sonntag, den 15. März 2020 deutlich in den negativen Bereich sanken, entwickelte sich dies zu einer wöchentlichen Routine. Diese wiederholte sich am dritten Aprilwochenende zum sechsten Mal in Folge.

Somit weist das laufende Jahr 2020 bereits 168 Stunden mit negativen Preisen auf (Stand 21.04.2020). Im  gesamten Kalenderjahr 2019 waren es 211 – ein bisheriger Rekord. Der April lieferte bisher zudem deutlich mehr Stunden mit Settlement-Preisen unter 0 EUR/MWh (40) als über 40 EUR/MWh (12).

Settlement-Preise Day-Ahead-Auktionen EPEX Spot in der Bieterzone DE-LU, Energy Brainpool, Preis

Abbildung 1: Settlement-Preise Day-Ahead-Auktionen EPEX Spot in der Bieterzone DE-LU, Quelle: EPEX SPOT, ENTSO-E

Wie sich aus Abbildung 1 entnehmen lässt, stechen die Preisentwicklungen zwischen dem 19. und 21. April besonders heraus. Der Preis für eine Baseload-Lieferung Strom am Dienstag, den 21. April 2020, sank dabei auf -16,15 EUR/MWh. Damit ergab sich das erste Mal überhaupt ein negativer Preisschnitt für einen Werktag [1]. In der Peakload-Zeit von 14 bis 17 Uhr lagen die Preise durchgehend unter -80 EUR/MWh.

Ein Blick auf die europäischen Nachbarn in Abbildung 2 zeigt ein ähnliches Bild, wirft jedoch auch Fragen auf. Es bestätigt sich zwar ein sehr niedriges Strompreisniveau – in allen Bieterzonen traten negative Preise auf.

Die Anzahl und Intensität dieser Stunden, sowie der resultierende Durchschnittspreis sind allerdings ungleich verteilt. Letzterer lag in Deutschland mindestens 20 EUR/MWh unter dem der Nachbarländer. Einzig Belgien stellt eine Ausnahme dar und ähnelt stark den deutschen Werten.

Day-Ahead Auktionsergebnisse Montag 20.04.2012 EPEX Spot in jeweiliger Gebotszone, Preis, Energy Brainpool

Abbildung 2: Day-Ahead-Auktionsergebnisse Dienstag 21.04.2020 EPEX Spot in jeweiliger Gebotszone, Quelle: EPEX Spot

Um sich den großen Unterschied zwischen den einzelnen Ländern zu erklären, ist es wichtig, zu verstehen, wo die Gründe für das allgemein niedrige Preisniveau liegen. Dabei hilft die Betrachtung der altbekannten Faktoren der Preisbildung: Angebot und Nachfrage.

Nachfragerückgang und erneuerbares Rekordangebot stehen sich gegenüber

Mittlerweile ist bekannt, dass die Maßnahmen zur Begrenzung der Coronavirus-Pandemie zu einem europaweiten Rückgang der Stromnachfrage geführt haben. Besonders das temporäre Herunterfahren ganzer Industrieketten, beispielsweise der Autoindustrie, hat einen merklich niedrigeren Stromverbrauch zur Folge.

Wie Daten von ENTSO-E Transparency zeigen, lag die durchschnittliche tatsächliche Last in den ersten 19 Tagen des Aprils 2020 mit 49.476 MW 13 Prozent unter dem Wert des Vorjahreszeitraums. Allerdings muss dabei bemerkt werden, dass der April 2020 bis dahin zwei Wochenenden und einen Feiertag mehr zählt als der April 2019.

Außerdem liegt die Durchschnittstemperatur des laufenden Monates etwas höher. Vergleicht man allerdings nur Werktage, so liegt der Durchschnitt immer noch 10,5 Prozent unter dem Vorjahreswert.
Daher sorgt also besonders die Nachfrageseite für ein grundsätzlich gedämpftes Strompreisniveau, welches uns seit Mitte März begleitet. Hinzu kommen außerdem niedrige Grenzkosten der konventionellen Kraftwerke durch den starken Preisverfall an den Commodity- und Emissionsmärkten.

Was passiert auf der Angebotsseite?

Auf der Angebotsseite hingegen finden wir die Gründe für den zeitweise extremen Preisverfall, insbesondere in den letzten Tagen. Eine besondere Wetterkonstellation liefert derzeit eine ungewöhnlich hohe Anzahl Sonnenstunden [2].

In fast allen Teilen Deutschlands summierten sich im April bereits über 200 Stunden an Sonnenscheindauer auf. Das ist weit mehr als im Durchschnitt [3]. In den Tagen vom 19. bis zum 21. April ließ sich außerdem eine starke Windleistung feststellen.

So kam es auf den Strommärkten zu einem außergewöhnlichen Ereignis: eine deutlich überdurchschnittliche Einspeisung der Solar- und Windkraftwerke und zwar gleichzeitig. Wie stark diese Einspeisung ausfiel, lässt sich Abbildung 3 entnehmen.

Die gemeinsame Leistung von Solar- und Wind-Onshore-Anlagen wurde zum Zeitpunkt der Day-Ahead-Auktion für den 21. April in der Spitze auf knapp 57,9 GW prognostiziert. Damit lag sie deutlich über den vier Spitzentagen im Jahr 2019, welche zum Vergleich angelegt sind.

gemeinsame Leistungswerte Wind onshore & Solar. Für den jeweiligen Tag ist der Maximalwert angegeben. Energy Brainpool

Abbildung 3: gemeinsame Leistungswerte Wind onshore & Solar. Für den jeweiligen Tag ist der Maximalwert angegeben. Quelle: ENTSO-E Transparency

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die schwache Binnennachfrage, gemeinsam mit den geringen Grenzkosten der konventionellen Kraftwerke den Grundstein für das niedrige Preisniveau legt. Eine zeitweise rekordverdächtige erneuerbare Einspeisung ermöglicht es, den Strompreis in ungeahnte Tiefen zu drücken.

Erneuerbare Kapazität und konventionelle Flexibilität: Wie sich die Differenzen zwischen den europäischen Preisen erklären lassen

Kommt man auf die deutlichen Unterschiede der Strompreise auf den europäischen Märkten zurück, spielen die gerade angeführten Angebots- und Nachfrageeffekte eine relevante Rolle. Der Rückgang der Nachfrage gestaltet sich in jedem Land unterschiedlich. Dies ist abhängig von der Härte der „Shutdown“-Maßnahmen und dem Anteil des Industriestromverbrauchs an der Gesamtnachfrage.

Auch die Wettersituation ist sicher nicht überall exakt gleich. Doch um die Unterschiede von über 20 EUR/MWh für den Durchschnittspreis zu erklären, sind noch zwei weitere Faktoren von Bedeutung: der Anteil der Erneuerbare-Energie-Anlagen im Kraftwerkspark und die Flexibilität seiner konventionellen Kraftwerke.

Herrschen perfekte Bedingungen für die Energiegewinnung von Wind- und Solarstrom, stellt sich im Folgenden die Frage inwiefern diese genutzt werden können. Ein maßgeblicher Faktor dabei ist die Größe des erneuerbaren Kraftwerksparks, der den jeweiligen Ländern zur Verfügung steht.

Diese ist in Abbildung 4 als relativer Anteil der installierten Gesamtkapazität im Jahr 2020 zu entnehmen.

Abbildung 4: relativer Anteil Wind onshore, Wind offshore & Solar an der installierten Gesamtleistung im Jahr 2020, Preis, Energy Brainpool

Quelle: ENTSO-E, Schweizer Bundesamt für Energie

Der Abgleich der installierten erneuerbaren Leistung mit den erreichten Preisen am 21. April 2020 legt den Verdacht nahe, dass Länder die besonders von der Wetterlage in Form von Elektrizitätsgewinnung profitieren konnten, auch vermehrt negative Strompreise aufwiesen.

Setzen wir die erzeugte Energiemenge aus erneuerbaren Energien ins Verhältnis zur nachgefragten Energiemenge, wird dieser Zusammenhang noch klarer. Vor allem Deutschland und Belgien, welche beide extrem negative Preise aufwiesen, stechen klar hervor.

relative Deckung der nachgefragten Energiemenge durch Wind onshore, Wind offshore und Solar am 21.04.2020, Preis, Energy Brainpool

Abbildung 5: relative Deckung der nachgefragten Energiemenge durch Wind onshore, Wind offshore und Solar am 21.04.2020, Quelle: ENTSO-E Transparency

Der zweite Faktor, welcher die Preisbildung bei einer starken erneuerbaren Einspeisung beeinflusst, ist die Fähigkeit der konventionellen Kraftwerke kurzfristig auf ein Preisniveau unterhalb ihrer Grenzkosten zu reagieren.

Während Gaskraftwerke dies beispielsweise sehr gut können, ist ein Herunterfahren oder gar Abschalten von Kernkraftwerken ein langwieriger und kostenintensiver Prozess.

Auslastung konventioneller Kraftwerke relativ zum bisherigen Maximalwert 2020. Mögliche Kraftwerksausfälle oder Wartungen sind nicht beachtet; Day-Ahead Strompreise EPEX SPOT Bieterzone DE-LU am 21.04.2020, Preis, Energy Brainpool

Abbildung 6: Auslastung konventioneller Kraftwerke relativ zum bisherigen Maximalwert 2020. Mögliche Kraftwerksausfälle oder Wartungen sind nicht beachtet; Day-Ahead Strompreise EPEX SPOT Bieterzone DE-LU am 21.04.2020, Quelle: ENTSO-E Transparency, EPEX SPOT

Wie Abbildung 6 zeigt, konnten die Kernkraftwerke nur schwach auf die negativen Preise am 21. April reagieren. Steinkohle- und Gaskraftwerke jedoch reduzierten ihre Leistung um 14 Uhr auf jeweils knapp 10 Prozent. In Anbetracht der Tatsache, dass Kernkraft nur noch 15 Prozent der gemeinsamen konventionellen Kapazität darstellt und die konventionellen Kraftwerke schon um 18 Uhr eine Residuallast von 14,2 GW decken mussten (Biomasse und Wasserkraft nicht beachtet), ist davon auszugehen, dass bezüglich der Flexibilität tatsächlich an einem Minimum gearbeitet wurde.

Entwicklungen in EU-Nachbarländern

Die extreme Rigidität der Kernkraftwerke belastete andere Länder deutlich. In Belgien beispielsweise liegt der Anteil der Nuklearkapazität am gesamten Kraftwerkspark immer noch bei 24,8 Prozent. Im Verhältnis zu den konventionellen Kraftwerken decken Kernkraftwerke sogar 45 Prozent der vorhandenen Kapazität ab. Dies liefert eine Erklärung dafür, warum die Strompreise sich in Belgien trotz 30 Prozent weniger erneuerbarem Strom im Netz, auf gleichem oder niedrigerem Niveau als in Deutschland bewegten.

In den weiteren Nachbarländern scheint die erneuerbare Energiemenge am 21. April 2020 nicht groß genug gewesen zu sein, um den Strompreis auf ein Niveau wie in Deutschland oder Belgien zu senken. Trotzdem wies Frankreich, mit einem nuklearen Kapazitätsanteil von knapp 50 Prozent, sechs negative Stundenpreise auf. Und das, obwohl die erneuerbare Energiemenge an diesem Tag nur 13 Prozent der Nachfrage deckte.

Schlussfolgerung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Deutschland die hohe erneuerbare Erzeugungsleistung einen größeren Anteil am extremen Preisrutsch hatte, als die mangelnde Flexibilität. Erneuerbare Einspeiserekorde sind grundsätzlich ein gutes Zeichen für die Umweltverträglichkeit des Energiesystems.

Auf einen so hohen Anteil erneuerbarer Stromerzeugung ist das Energiesystem heute aber noch nicht eingestellt. Die in Reaktion darauf negativen Strompreise bilden für konventionelle Kraftwerke keine langfristig nachhaltige Erlösgrundlage, wenn sie anhalten. Für Strom aus geförderten erneuerbaren Energien ist diese Entwicklung weniger bedrohlich. Das gegenwärtige Fördermodell gleicht die Mindereinnahmen bei der Vermarktung aus.

Aber durch den Förderausfall gemäß 6-Stunden-Regelung (§ 51 EEG) und durch den Wegfall der Förderung für EEG-Altanlagen ab 2021 hat diese Versicherung gegen einen Preisverfall auch für EEG-Anlagenbetreiber ernst zu nehmende Risse bekommen.

Es ist wichtig festzustellen, dass die aktuelle Situation eine Ausnahmesituation ist– sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite. Sobald der Stromverbrauch auf ein normales Niveau zurückkehrt, sollten negative Baseload-Preise vorerst außer Reichweite sein. Vielleicht blicken wir in zehn Jahren auf diese Zeit zurück und sagen: “Da haben wir es das erste Mal so richtig gesehen”.

Was sind die Trends der Strompreisentwicklung? Erfahren Sie dazu mehr in unserem Live-Online-Training am 13. Mai 2020.

 

Quellen:

[1]: https://www.montelnews.com/News/Story.aspx?id=1107443&highlightCsv

[2]: https://www.dwd.de/DE/wetter/thema_des_tages/2020/4/17.html;jsessionid=BB51152320ABE149812C7E115F81BF38.live21074

[3]: https://www.wetterkontor.de/de/wetter/deutschland/monatswerte.asp