Inmitten deutscher Hightech-Laboren entstehen bedeutende wissenschaftliche Innovationen. Sie werden, zusammen mit deutschen Chemieprodukten, in die ganze Welt exportiert werden. Die Wirkung von chemisch-pharmazeutischen Produkten reicht weit über die Landesgrenzen hinaus. Allerdings geht ihre Produktion nicht nur mit wirtschaftlichem Gewinn einher, sondern auch mit einem enormen Verbrauch an Energie und Ressourcen. Eine wesentliche Frage lautet daher: Wie können Klimaneutralität und die Chemiebranche miteinander vereinbart werden?

Der „Energiehunger“ steht zweifellos im Konflikt mit den Zielen der Klimaneutralität bis 2050. Eine Abwanderung dieser Brache wäre ein volkswirtschaftliches Desaster. Die Chemie- und Pharmabranche gehört mit ihrer Bruttowertschöpfung von 70 Milliarden und 787 tausend Beschäftigten zu den wichtigsten wirtschaftlichen Standbeinen Deutschlands [1].

Gleichzeitig wäre dem Klima damit nicht geholfen. Denn falls die inländische Produktion in Länder mit geringeren Umweltstandards verlagert wird, könnte dies zu einem „Carbon-Leckage-Effekt“ führen. Fachleute beschreiben damit die gesteigerten Emissionsverlagerungen in Drittstaaten. Doch wie lässt sich die deutsche Chemieindustrie in Richtung Klimaneutralität lenken und gleichzeitig ein Abwandern verhindern?

Der Weg zur klimaneutralen Chemie – eine Herkulesaufgabe

Diese Frage ist nicht so einfach beantwortet. Die Roadmap Chemie 2050 [2] aus dem Jahr 2019 untersuchte die Herstellung der wichtigsten Basischemikalien. Basischemikalien sind zum einen enorm wichtig, da sie Ausgangsstoffe für viele andere Industrieprodukte dienen. Andererseits tragen sie jedoch auch zu den meisten Emissionen in der Chemiebranche bei.

Die Ergebnisse der Roadmap 2050 verdeutlichen den immensen Kraftaufwand, der hinter dem Ziel der Klimaneutralität in der Chemieindustrie steht. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass die bereits bestehenden Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse noch etwas effizienter werden, wird dieser Effekt wahrscheinlich begrenzt sein.

Treibhausgasemissionen aus Prozessen, Energiebedarf und Produkten, Chemistry for Climate

Abbildung 1: Treibhausgasemissionen aus Prozessen, Energiebedarf und Produkten (Quelle: VCI, Wie die Transformation der Chemie gelingen kann, Abschlussbericht 2023, Seite 10-11)

Die fortschreitende Energiewende und der Kohleausstieg werden die Emissionen der Branche zwar etwas drücken, jedoch bei Weitem nicht im ausreichenden Maß. Ohne weitere Eingriffe würden die Emissionen bis 2050 lediglich um circa 27 Prozent im Vergleich zu heute abnehmen. Um die Emissionen ausreichend zu senken, sind neue deutlich stromintensivere Verfahren notwendig. Dies erfordert allerdings nicht nur zusätzliche Investitionssummen von 45 Milliarden Euro, sondern auch einen zusätzlichen Bedarf von insgesamt 628 Terawattstunden an Grünstrom. Um diese Transformation stemmen zu können, sollte Preis für diesen Strom bei 4 Cent die Kilowattstunde liegen.

Grünstrom zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Diese Zahlen sind sicherlich nicht ermutigend. Gegenwärtig wird in Deutschland circa 500 bis 550 Terawattstunden an Strom produziert. Hiervon sind etwa 250 Terawattstunden grüner Strom. Bis 2050 könnten die gesamte erzeugte Strommenge auf 750 bis 1000 Terawattstunden steigen. Dennoch wird Strom ein knappes und umkämpftes Gut bleiben.

Es ist zu erwarten, dass die Nachfrage durch die Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektor deutlich steigen wird. Hier drohen Konflikte bei der Frage der Verteilung des grünen Stromes. Zudem sprechen wir hier auch nicht nur von einem reinen Erzeugungsproblem. Der Netzausbau müsste mit dieser gesteigerten Strommenge Schritt halten können. Eine staatliche Subvention des Strompreises wäre ebenfalls erforderlich, falls die Preise nicht auf 4 Cent pro Kilowattstunde sinken sollten. Kurzum: Eine solche Transformation wäre technisch zwar denkbar, aber eher unwahrscheinlich.

Wie die Transformation trotzdem gelingt!

Aufbauend auf dieser Studie veröffentlichte der Verband chemischer Industrie Ende April 2023 [3] seinen Endbericht „Chemistry 4 Climate“ zur Erreichung schnellstmöglicher Klimaneutralität in der Chemie. Die gute Nachricht dieser Studie lautet: Der enorme Strombedarf, der für die Erreichung der Klimaneutralität in der Chemiebranche erforderlich ist, kann erheblich reduziert werden.

Wie kann dies konkret umgesetzt werden? Die Studie berücksichtigt das Potenzial von Biomasse sowie den Beitrag von Kunststoffabfällen zur Kohlenstoffversorgung. Aufgrund des Klimawandels werden wir unsere Wälder umbauen müsse. Die hier anfallenden Resthölzer sollen als Biomasse vorrangig für die stoffliche Nutzung verwendet werden. Kunststoffabfälle könnten als Sekundärrohstoff wiederverwendet werden und so den Kohlenstoffbedarf teilweise decken. Die Gleichung ist einfach: Je mehr von diesen Stoffen zur Verfügung stehen, desto geringer fällt auch der Strom und Investitionsbedarf aus.

Unter der optimalen Ausnutzung der Potenziale würde der geschätzte Strombedarf auf 325 Terawattstunden reduziert werden – fast die Hälfte dessen, was die Roadmap Chemie 2050 ursprünglich prognostiziert hatte. Die Investitionssumme läge mit 25 Milliarden Euro deutlich unter dem ursprünglichen Betrag. Dennoch erfordert diese Transformation unter anderem die Sammlung, den Transport und die Aufbereitung von etwa 30.000 Kilotonnen Biomassebedarf sowie 5.300 Kilotonnen Kunststoffabfällen.

Darüber hinaus wird der Bedarf an Wasserstoff, insbesondere für die stoffliche Nutzung, auf 148 Terawattstunden geschätzt. Dies entspricht etwa dem Achtfachen des heutigen bereits hohen Bedarfs der chemischen Industrie, der sowohl wettbewerbsfähige Preise als auch Klimaneutralität erfordert.

Kreislaufwirtschaft und Rohstoffversorgung der Zukunft (Quelle: VCI, Wie die Transformation der Chemie gelingen kann, Abschlussbericht 2023, Seite 24)

Abbildung 2: Kreislaufwirtschaft und Rohstoffversorgung der Zukunft (Quelle: VCI, Wie die Transformation der Chemie gelingen kann, Abschlussbericht 2023, Seite 24)

Die Schlüsselrolle der Energiewirtschaft

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Dies mag zwar nach wie vor sehr anspruchsvoll klingen, ist jedoch aus energiewirtschaftlicher Sicht deutlich realistischer. Die geplante Nutzung von Biomasse und Kunststoffen geht zwar mit einem deutlich erhöhten Aufwand an anderer Stelle einher. Jedoch könnte man auf diese Weise ein deutlich resilienteres System schaffen, was unabhängiger von exogenen Schocks bleibt.

Für die Energiewirtschaft bedeutet das auch, dass sowohl der Netzausbau als auch der Ausbau der erneuerbaren Erzeugung diesen Nachfragemengen gewachsen sein muss. Eine solche Aufgabe kann nur im europäischen Kontext gelingen und macht ein weiteres Zusammenwachsen auf den europäischen Strommärkten von Nöten. Doch damit nicht genug, wird auch Wasserstoff von enormer Bedeutung für das Gelingen dieses Vorhabens sein. Das stellt große Anforderungen an die politischen Transformationspläne im Hinblick auf:

  • diversifizierte Importstrategien,
  • Förderung von grünem Wasserstoff und
  • regulatorische Rahmenbedingungen.

Welche Richtung werden die Energiewirtschaft und die Märkte in Zukunft einschlagen? Diese Frage geht Hand in Hand mit der Überlegung, wie Unternehmen sich in diesem sich wandelnden Umfeld positionieren sollten. Auch wenn sich die Lage auf den internationalen Märkten wieder beruhigt hat, bleibt es trotzdem unübersichtlich. Viele Firmen denken gerade jetzt noch mal über ihre Geschäftsstrategie nach und beziehen den Faktor Energie das erste Mal so richtig hierbei mit ein.

Was Sie hierfür brauchen ist Sicherheit und Planbarkeit, die Strompreisszenarien bieten können. Diese modellieren die Strompreise innerhalb eines Binnenmarktes unter bestimmten Annahmen und können so Licht ins Dunkel bringen. Mehr Information zu Strompreisszenarien für Deutschland und Europa finden Sie hier.

Unser Wissensstipp rund um Wasserstoff: das Live-Online-Training „Wasserstoff-PPA in Deutschland und Europa“ am 26. und 27.9.2023. Wasserstoff und Strom sind die beiden Säulen der Dekarbonisierung der Energieversorgung und der Industrie. Darin tun sich unter anderem zwei besonders relevante neue Geschäftsfelder und Verdienstmöglichkeiten auf: Die Belieferung mit Grünstrom über Power Purchase Agreements (PPAs) und die Herstellung von grünem Wasserstoff. Dieses Seminar vermittelt das nötige Wissen, um die Grünstrombeschaffung für Elektrolyseure zu optimieren und umsetzen zu können.

Quellen:

[1] IWF (2022). Branchenporträt der Chemischen Industrie in Deutschland. URL: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Report/PDF/2022/IW-Report_2022-Chemie_Branchenportrait-neu.pdf

[2] FutureCamp Climate GmbH & DECHEMA Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie e. V. (2019). Roadmap Chemie 2050. VCI. URL: https://www.vci.de/services/publikationen/broschueren-faltblaetter/vci-dechema-futurecamp-studie-roadmap-2050-treibhausgasneutralitaet-chemieindustrie-deutschland-langfassung.jsp

[3] FutureCamp Climate GmbH & DECHEMA Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie e. V. (2023). Chemistry 4 Climate. VCI. URL: https://www.vci.de/services/publikationen/chemistry4climate-abschlussbericht-2023.jsp