Emissionsminderungen allein reichen nicht aus, um ehrgeizige Klimaziele zu erreichen. Daher wird immer öfter über Negativemissionen und Carbon Removal als mögliche weitere Klimaschutzmaßnahmen gesprochen. In diesem Gastbeitrag erklärt Simon Göß von cr.hub, was sich hinter den Begriffen Negativemissionen und Carbon Removal verbirgt. Anschließend an die Analyse von fünf globalen Szenarien in Bezug auf Negativemissionen erläutert Simon Göß die Implikationen für die Politik und zeigt einige Initiativen der Privatwirtschaft auf.
Blicken wir auf das letzte Jahr zurück, so wird vor allem die Coronavirus-Pandemie im Gedächtnis bleiben. In der öffentlichen Wahrnehmung scheinen die Pandemie und ihre Auswirkungen den Klimawandel als größte Herausforderung verdrängt zu haben.
CO2-Emissionen steigen wieder
So fielen auch die weltweiten energiebedingten CO2-Emissionen 2020 gegenüber 2019 um etwa 6 Prozent. Insbesondere durch die Lockdown-Beschränkungen und die wirtschaftliche Krise gingen die energiebedingten Emissionen im Jahr 2020 um mehr als 2 Gigatonnen (Gt) auf gut 30 Gt zurück. Einen Rückgang der Emissionen hatte Anfang 2020 niemand erwartet. Tatsächlich erreichten einige Länder wie etwa Deutschland ihre Klimaziele nur aufgrund der Coronavirus-Krise. Anders wären die Emissionen kaum so stark gesunken.
Allerdings offenbart ein Blick auf aktuelle Zahlen und Statistiken, dass sich die energiebedingten CO2-Emissionen seit Dezember 2020 wieder auf Vorjahresniveau befinden und 2021 nur 1 Prozent unter den Vor-Corona-Emissionen des Jahres 2019 landen könnten.
Netto-Null-Terminologie
Selbst nach starken Emissionsminderungen in den kommenden Jahrzehnten in allen Wirtschaftsbereichen durch den Ausbau von erneuerbaren Energien, die Steigerung der Energieeffizienz und der Reduktion des Energieverbrauchs können noch Restemissionen auftreten. Aus der Atmosphäre müssen dann aktiv Treibhausgase entfernt werden, um die Emissionen bilanziell weiter zu verringern.
Ein Land oder eine Organisation erreicht Netto-Null-Emissionen oder Klimaneutralität, wenn die Menge an entfernten Emissionen diejenige der Restemissionen erreicht. Das bedeutet, dass bilanziell keine Treibhausgase mehr in die Atmosphäre gelangen. Die aus der Atmosphäre entfernten Mengen werden auch als negative Emissionen bezeichnet. Es gibt verschiedene Technologien und Lösungen für negative Emissionen, die sich heute hauptsächlich auf die Entfernung von CO2 – als wichtigstes Treibhausgas – aus der Atmosphäre konzentrieren. Daher sind diese Lösungen auch als Carbon Removal bekannt.
Allerdings muss zwischen Carbon Removal, Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage: CCS) sowie Kohlenstoffabscheidung und -nutzung (Carbon Capture and Use oder Utilisation: CCU) unterschieden werden. CCS verhindert, dass Emissionen aus fossilen Brennstoffen überhaupt erst in die Atmosphäre gelangen. CCS entfernt aber keine Emissionen aus der Atmosphäre. Insofern handelt es sich nicht um eine negative Emissionstechnologie oder -lösung. CCU bezieht sich auf die Verwendung von abgeschiedenem CO2 bei der Herstellung von Kraftstoffen oder anderen Produkten. Ob ein bestimmtes CCU-Verfahren und -Produkt tatsächlich zu negativen Emissionen führt oder nicht, hängt davon ab, woher das abgeschiedene CO2 stammt und wie lange die Lebensdauer des betreffenden Produkts ist. Abbildung 1 (Quelle: cr.hub) erklärt den Unterschied zwischen Carbon Removal, CCU und CCS.
Die richtige Terminologie ist also überaus wichtig, wenn glaubwürdige Netto-Null-Ziele oder Klimastrategien festgelegt und konkret erreicht werden sollen. Ebenso müssen diese Begriffe bei Bewertung von Netto-Null-Zielen oder -Szenarien klar definiert sein.
Bewertung von globalen Szenarien
Aufgrund der großen Anzahl globaler Klimaszenarien konzentrieren wir uns hier nur auf einige wenige. Abbildung 2 (Quelle: cr.hub) zeigt einen beispielhaften Emissionspfad für das Erreichen des 1,5 °C-Ziels. Es werden hier traditionelle Technologien zur Minderung von Emissionen, wie erneuerbare Energien und Energieeffizienz, sowie Carbon Removal separat dargestellt. Der Abbildung liegen die Daten der Klimaszenarien des Network for Greening the Financial System (NGFS) für Zentralbanken und Aufsichtsbehörden zugrunde.
Um den Umfang dieser Analyse möglichst breit zu halten, und nicht nur in eine Richtung zu schauen, betrachten wir Szenarien und Berechnungen von fünf verschiedenen Organisationen:
Die Net Zero by 2050 Roadmap der Internationalen Energieagentur (IEA), das Konsultationspapier Reaching climate objectives: the role of carbon dioxide removals der Energy Transitions Commission (ETC), den Special report: Global warming of 1.5°C des Weltklimarats (IPCC) sowie McKinsey’s Climate math: What a 1.5-degree pathway would take und die Klimaszenarien des NGFS. Einige Angaben zu den benötigten Negativemissionen wurden aus dem Bericht The case for Negative Emissions der Coalition for Negative Emissions destilliert. Wir von cr.hub sind uns bewusst, dass diese Auswahl nur einen Teil der verfügbaren Literatur abbildet.
Alle betrachteten Szenarien zielen darauf ab, den Temperaturanstieg gegenüber dem vorindustriellen Niveau unter 1,5 °C zu halten. Trotzdem ist der Vergleich schwierig, da unterschiedliche Annahmen darüber bestehen, welcher Teil der Wirtschaft und somit welche Emissionen in das Szenario einfließen oder was genau als Negativemission gilt und was nicht. Darüber hinaus unterscheiden sich die Wahrscheinlichkeiten für das Einhalten einer bestimmten Temperaturschwelle zwischen den Szenarien und Studien.
Dies bedeutet, dass die Annahmen für die Modellierung und Szenarien für Net Zero so klar wie möglich ausgewiesen sein sollten, um die Ergebnisse bestmöglich einordnen und verstehen zu können.
Rasche Ausweitung von Carbon Removal erforderlich
Was haben die Szenarien gemeinsam?
Emissionsminderungen durch den großflächigen Einsatz erneuerbarer Energien und die Elektrifizierung großer Teile des Industrie- und Verkehrssektors sind in allen Szenarien enthalten. Dennoch stimmen alle Szenarien darin überein, dass ein erheblicher Bedarf an negativen Emissionen im Gigatonnen-Bereich (Gt CO2e) besteht, um das 1,5 °C-Klimaziel zu erreichen, wie Abbildung 3 (Quelle: cr.hub) zeigt (Datenquellen: Coalition for Negative Emissions, IEA, ETC).
Außerdem müssen Technologien zur Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre bereits in diesem Jahrzehnt in großem Maßstab verfügbar sein und von einem sehr niedrigen Niveau heute bis etwa 2030 das Gt-Niveau erreichen. Angesichts der heutigen Treibhausgasemissionen von fast 50 Gt pro Jahr beläuft sich die Höhe negativer Emissionen nach den fünf Szenarien im Jahr 2050 auf etwa 5 bis 20 Prozent der aktuellen globalen Emissionen. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass negative Emissionstechnologien keine marginalen Anwendungen auf dem Weg zu Netto-Null-Emissionen sind, sondern wichtige Voraussetzung, um mit den Restemissionen in den schwer zu dekarbonisierenden Sektoren umzugehen.
Wo stimmen die Zahlen nicht überein und warum?
Am oberen Ende stehen die hohen Zahlen der ETC und des IPCC mit bis zu 10 Gt an Negativemissionen bis Mitte des Jahrhunderts, während die Net Zero Roadmap der IEA am unteren Ende mit einem erwarteten Bedarf von 2,4 Gt bis 2050 steht. Die IEA sieht eine Gesamtabscheidung von 7,6 Gt einschließlich CCS und CCU vor. Allerdings machen originär negative Emissionen nur etwa 30 Prozent davon aus. Die Szenarioannahmen der IEA beinhalten keine neuen Investitionen in Kohlekraftwerke ohne CCS und in neue Öl- und Gasfelder oder Kohleminen ab 2021, sowie den Ausstieg aus Kohlekraft ohne CCS weltweit bis 2030. Das Ambitionsniveau für klassische Emissionsminderung ist hier im Vergleich zu den anderen vier Szenarien sehr hoch.
Wird ein mittlerer Pfad wie in den NGFS- oder McKinsey-Szenarien ernst genommen, dann müssen Negativemissionstechnologien (NETs) in den kommenden Jahrzehnten schnell hochskaliert werden, um in den Gt-Bereich zu gelangen. Laut dem Bericht The case for Negative Emissions ist dafür eine Skalierung um mindestens das 50-Fache gegenüber dem heutigen Stand erforderlich. Zumal die derzeitige Pipeline von Carbon Removal-Projekten einschließlich naturbasierter Lösungen, Bioenergie mit CCS und Direct-Air-Capture bis 2025 nur etwa 0,15 Gt beträgt (Quelle: Coalition for Negative Emissions).
Ein Beispiel dafür, wie erhöhte Klimaambitionen negative Emissionen erfordern, ist der Fall des neuen deutschen Klimaschutzgesetzes. Hierzu werden wir ebenfalls bald eine Analyse veröffentlichen.
Implikationen für die Politik
Das Erreichen von Netto-Null-Emissionen bis 2050 bei gleichzeitiger Begrenzung der globalen Temperatur auf unter 1,5 °C erfordert beispiellose Anstrengungen und scheint ohne groß angelegte Nutzung negativer Emissionen kaum mehr zu erreichen. In der Tat sind sogar viele 2-Grad-Pfade von negativen Emissionen abhängig, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Das gilt besonders, wenn internationale Klimaschutzmaßnahmen auf heutigem Niveau bleiben und nicht verschärft werden (Quelle: Minx, et al., Fuss et al.).
Politische Entscheidungsträger müssen sich nun folgende Fragen stellen:
- Welche Möglichkeiten gibt es, Carbon Removal in die Klimapolitik zu integrieren?
- Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen der Politik für Emissionsminderungen und für negative Emissionen?
- Wie können NETs skaliert und Innovationen in diesem Sektor gefördert werden?
- Wohin sollen Investitionen und Ressourcen fließen?
- Wie können Carbon Removal Credits implementiert und in Emissionshandelssysteme, wie dem EU ETS, integriert werden?
Auf EU-Ebene sind die ersten Initiativen zur Unterstützung von Carbon Removal, wie etwa die Negative Emissions Platform auf dem Weg. Die Europäische Kommission will bis 2023 ein robustes Zertifizierungssystem für Carbon Removal vorschlagen. Darüber hinaus werden Forschung und Innovation zu Carbon Removal und CCS durch Horizon 2020 und das Nachfolgeprogramm Horizon Europe gefördert. Auch der Innovationsfonds, der 10 Mrd. Euro aus den Einnahmen des EU-Emissionshandelssystems erhält, schließt Förderung von kommerziellen Demonstrationsprojekten von kohlenstoffarmen Technologien wie CCS und NETs in seinen Rahmen ein.
Carbon-Removal-Lösungen brauchen Unterstützung
Bei der Bekämpfung des Klimawandels werden alle Lösungen benötigt, angefangen von Emissionseinsparungen und -minderungen bis zur Entnahme von Klimagasen aus der Atmosphäre. Damit ein Verfahren oder eine Technologie als Carbon Removal angesehen werden kann, müssen vier Bedingungen erfüllt sein:
- CO2 wird physisch aus der Atmosphäre entfernt.
- Das entnommene CO2 wird möglichst dauerhaft außerhalb der Atmosphäre gelagert.
- Während des Prozesses generierte Emissionen werden in der Gesamtbilanz berücksichtigt.
- Während des Prozesses generierte Emissionen sind geringer als die produzierten Negativemissionen.
Skalierung und Anwendung der verschiedenen naturbasierten und technologischen Lösungen zum Carbon Removal stecken jedoch teilweise noch in ihren Kinderschuhen. Abbildung 4 (Quelle: cr.hub) zeigt ausgewählte Negativemissionstechnologien.
Wie bereitet sich die Industrie vor?
Für die Privatwirtschaft, insbesondere für Konzerne und Unternehmen, die sich Klimaziele setzen und ihre eigenen Netto-Null-Ziele anstreben, steigt die Komplexität der Diskussion. International anerkannte Standards für die Festlegung von Klimazielen und die Rolle von Minderung und Removal, wie etwa der Net Zero Standard der Science Based Targets Initiative, werden von großer Bedeutung sein (Quelle: SBTi).
Industriegeführte Initiativen zu freiwilligen Kohlenstoffmärkten wie die Taskforce for Scaling Voluntary Carbon Markets (TSVCM) werden ebenfalls benötigt, um die Nachfrage und den Markt voranzutreiben. Cr.hub ist Teil der Konsultationsgruppe der TSVCM, welche kürzlich ihren Bericht zur zweiten Phase der Implementierung eines freiwilligen weltweiten CO2-Marktes veröffentlicht hat. Um echten Nutzen für das Klima zu erzielen, ist es jedoch wichtig, dass nur qualitativ hochwertige Zertifikate für Minderungen und Carbon Removal in sowohl privatwirtschaftlichen und freiwilligen, als auch staatlichen Initiativen berücksichtigt werden. Die Diskussion darüber, was hochwertige Carbon Removal Credits und Lösungen eigentlich ausmachen, führt hier zu weit. Cr.hub wird dieses Thema jedoch in weiteren Beiträgen beleuchten.
Zusammenfassend wird klar, dass viele Akteure und Organisationen Carbon Removal und negative Emissionen in ihren Klima- und Energieszenarien als potenzielles Instrument zur Erreichung von Netto-Null-Zielen ernst nehmen. Weiterhin müssen NETs stark skaliert werden, um die notwendige Größenordnung zu erreichen.
Der cr.hub geht online
Vor diesem Hintergrund wurde der cr.hub als internationales Netzwerk und Plattform Anfang 2021 ins Leben gerufen. Cr.hub vermittelt gezielt Kontakte und Wissen im Bereich Carbon Removal und Negativemissionstechnologien, um die Entwicklung von Carbon-Removal-Projekten und -Lösungen zu beschleunigen und Investitionen in diesem Sektor zu fördern.
Um mehr über Negativemissionen, Carbon Removal und Net-Zero-Strategien zu erfahren, nehmen Sie Kontakt mit cr-hub auf, abonnieren Sie den cr.hub Newsletter oder lernen Sie mehr zu den Themen in den Veranstaltungen im cr.hub .
Co-Author des Artikels: Hendrik Schuldt, cr.hub
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