Ein vorgezogener Kohleausstieg, 80 Prozent erneuerbare Energien bis 2030, und Klimaneutralität bis 2045: So lauten die drei energiewirtschaftlichen Eckpfeiler der ambitionierten Pläne der Bundesregierung im Koalitionsvertrag. Die Inhalte zweier Gesetzespakete umzusetzen, das steht in diesem Jahr auf dem Plan.

Die angedachten Änderungen wirken sich potentiell sehr stark auf den Strommarkt aus. Der Großhandelsstrompreis sinkt, Phasen der Vollversorgung aus erneuerbaren Energien nehmen zu, gleichzeitig steigt der Bedarf an Gaskraftwerken, Wasserstoff und Strom. Das Energy Brainpool-Analyseteam bewertet die potenziellen wirtschaftlichen Auswirkungen des Koalitionsvertrags zunächst in Form einer Szenariosensitivität. In diesem Blogbeitrag stellen wir einige Ergebnisse vor.

Einmal Kohleausstieg bitte, idealerweise bis 2030

Derzeit bieten Kohlekraftwerke eine Leistung von 34,4 Gigawatt (GW) am Strommarkt an [1]. Sollen diese bis 2030 aus dem Markt ausscheiden, muss ein Teil ihrer steuerbaren Leistung ersetzt werden. Bis 2024 kommen zu der derzeitigen Gaskraftwerkskapazität von 28,6 GW voraussichtlich noch 2,9 GW hinzu. Hier berücksichtigen wir nur die Kraftwerke, die ihre Leistung am Strommarkt anbieten werden.

Gaskraftwerksneubauten dauern rund zwei Jahre Planungszeit und zwei Jahre Bauzeit. Eine Genehmigung vorausgesetzt, ist der zusätzliche Zubau technisch machbar, wenn er denn wirtschaftlich ist.

Aus drei Gründen ist es nicht notwendig, alle stillgelegten Kohle- und Kernkraft-Kraftwerksleistungen 1:1 zu ersetzen. Erstens wird es einen verstärkten europäischen Stromaustausch geben, zweitens gibt es zwar nunmehr geringe, noch vorhandene europäische Kraftwerksüberkapazitäten und drittens wird die Stromnachfrage verstärkt flexibilisiert.

Ergebnisse der Modellierung

Berücksichtigen wir diese Faktoren, ergibt die stundenscharfe europäische Strommarktmodellierung von Energy Brainpool für 2030 einen Bruttoleistungsbedarf von 45,9 GW an Gaskraftwerken (+14,4 GW). Insbesondere ist der genaue Zahlenwert abhängig von

  • steuerbaren Kraftwerkskapazitäten der Nachbarländer,
  • dem Grad der Flexibilisierung der Stromnachfrage,
  • den Speicherkapazitäten,
  • sowie der Verfügbarkeit der europäischen Grenzkuppelkapazitäten.

Derzeit ist noch unklar, ob und wie dieser technisch notwendige Zubau energiepolitisch angereizt werden kann.

Besonders brisant ist eine geopolitische Auswirkung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Energiepreiskrise. In unserem Szenario steigt die Stromerzeugung aus Erdgaskraftwerken von 2020 bis 2030 um 51 Prozent. Die Abhängigkeit der Stromerzeugung von Erdgasimporten erhöht sich also stark. Jedoch relativiert sich diese Zahl, wenn man bedenkt, dass die Stromerzeugung 2020 nur 14 Prozent der deutschen Gasnachfrage ausmachte [2].

200 (!) GW Photovoltaik

Zugegeben – als wir bei Energy Brainpool dieses Ziel im November 2021 das erste Mal sahen, waren wir überrascht ob der Höhe und Ambition. Unsere stundenscharfe Modellierung zeigt, dass der angestrebte Anteil an Solarstrom das Stromsystem zunehmend herausfordern wird. Die Mengen von PV-Strom, die in den Mittagsstunden zu negativen Strompreisen vermarktet werden müssten, steigen in unserer Berechnung auf bis zu 13 Prozent der Gesamterzeugung an. Nehmen wir in der Modellierung an, dass das Laden der 15 Millionen E-PKWs im Jahr 2030 nicht gesteuert erfolgt, so erhöht sich dieser Wert noch einmal drastisch.

Hierin liegt eine riesige derzeit ungelöste Herausforderung. Denn Deutschland kann nur bei einer Integration dieser Erzeugungsmengen einen Anteil von 80 Prozent erneuerbare Energien erreichen. Alternativ muss für jeden Prozentpunkt mittags abgeregelten Stroms gut ein Prozentpunkt zusätzliche PV-Leistung installiert werden.

Auch liegen die durchschnittlichen Vermarktungserlöse von Solarstrom im Jahr 2030 bereits 8,4 Prozent unterhalb derer von Windenergie an Land. Heute ist dies wohlgemerkt noch umgekehrt: Über das Jahr hinweg hat der Strom aus Solaranlagen einen höheren Börsenwert als der Strom aus Windkraftanlagen. Das liegt vor allem daran, dass bei Tageslicht der Stromverbrauch höher ist. Durch die stärkere Erhöhung des geplanten Solarzubaus im Vergleich zur Windkraft relativiert sich dieser Vorteil jedoch.

Über das Jahr hinweg beträgt der Anteil von Photovoltaikstrom in unserer Szenariorechnung im Jahr 2030 rund 26 Prozent. Da der Winter in Deutschland bekanntlich nicht sonnenverwöhnt ist, beträgt die durchschnittliche Einspeisung von Juni bis August rund den vierfachen Wert der Erzeugung von Dezember bis Februar.

Einblick in die Modellierung

Die folgende Abbildung zeigt das Stromsystem an vier Tagen im Spätsommer 2030 gemäß der stundenscharfen Strommarktmodellierung. Bei viel Sonne und Wind wird die inflexible Stromnachfrage um flexibilisierte Last (E-PKWs, Wärmepumpen, Elektrolyseure) ergänzt und Überschüsse werden exportiert. Wird Sonne und Wind knapp, springen zusätzliche Gaskraftwerke an und Importe decken einen Teil der Last. Auch Tage mit Übereinspeisung erneuerbarer Energien existieren.

In unserer modellierten Welt findet sich trotz negativer Strompreise, flexibler Stromnachfrage, Stromspeichern und Exporten in einigen Situationen kein Verbraucher mehr für einzelne Erzeugungslastspitzen.

Stündliche Erzeugungs- und Nachfragestruktur im modellierten Elektrizitätssystem an vier Tagen im Spätsommer 2030, Blogbeitrag Koalitionsvertrag

Abbildung 1: stündliche Erzeugungs- und Nachfragestruktur im modellierten Elektrizitätssystem an vier Tagen im Spätsommer 2030 (Quelle: Energy Brainpool)

Es wird kuschelig auf der Nordsee

Für die Windkraft auf See gibt es ein paar mehr Wegmarker im Koalitionsvertrag: „Die Kapazitäten für Windenergie auf See werden wir auf mindestens 30 GW in 2030, 40 GW in 2035 und 70 GW in 2045 erheblich steigern.“ [3]. Da die Windkraft auf See den Auslastungskönig unter den fluktuierenden erneuerbaren Energien darstellt, ist das für den Zeitraum nach 2030 ein richtiger Booster für die erneuerbare Stromerzeugung.

Die Realisierung einer installierten Windleistung von mehr als 40 GW vor allem auf der Nordsee geht mit der Überschreitung einer kritischen Leistungsdichte einher, also der Höhe der installierten Leistung von Windkraftanlagen je Fläche. Dies kann eine spürbare gegenseitige Verschattung der Anlagen hervorrufen. Wir gehen bisher davon aus, dass sich die durchschnittlichen Vollbenutzungsstunden von 2035 bis 2045 um 23 Prozent reduzieren, sehen aber noch weiteren Forschungsbedarf hierzu.

Wirtschaftlich kommen Windenergieanlagen im Vergleich zu den Solaranlagen mit einem blauen Auge davon. Die capture rate von Windenergie an Land reduziert sich im Szenariojahr 2030 „nur“ auf knapp 80 Prozent, bei der Windenergie auf See nur auf 87 Prozent. Dieser Wert gibt das Verhältnis des Börsenwertes des wetterabhängigen Erzeugungsprofils von Wind- oder Solaranlagen verglichen mit dem Börsenwert einer Grundlastlieferung an. Bei Solaranlagen hingegen fällt dieser Wert viel drastischer auf 71 Prozent.

Wir schaffen das (?)

In vielen Gesprächen haben uns Kunden gefragt, „ob das denn überhaupt noch realistisch sei?“. Unter der Maßgabe, 80 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien im Jahr 2030 zu erreichen bei gleichzeitiger Sektorenkopplung, ist das zumindest der aus unserer Sicht realistischste Schlachtplan.

Zunächst steigert eine EEG-Vergütungserhöhung oder Solarpflicht den Zubau von PV-Aufdachanlagen. Anschließend folgen größere Freiflächen-PV-Anlagen mit etwas längerer Planungszeit in einem Mix aus Ausschreibungen und großen PPA-finanzierten Projekten. Bei der Windkraft an Land steht und fällt der Plan mit der Flächenverfügbarkeit. Aus unserer Sicht braucht eine EEG-Anpassung und Regulierungsänderung mindestens vier Jahre Vorlauf, bis sich der jährliche Bruttozubau auf die Zielgerade einschwenkt. Zudem steht die Anpassung vor dem erhöhten Risiko, ob und wie lange Altanlagen weiter betrieben werden können. Mit einem zusätzlichen Zubau der Windenergie auf See rechnen wir erst zum Ende der Dekade. Hier muss eine ganze Industrie wiederbelebt werden, und sowohl Netzplanung als auch -ausbau werden noch viel Zeit in Anspruch nehmen.

Resümee

Alles in allem bewerten wir den Koalitionsvertrag als einen sehr ambitionierten, aber möglichen Plan. Die gute Nachricht für die Stromverbraucher: Geht der Plan auf, dann fällt der Großhandelsstrompreis deutlich trotz Kohleausstieg. Besonders mit zeitvariablen Tarifen für flexible Verbraucher und bei Stromverbräuchen im Sommer könnten künftig sehr niedrige Strombezugspreise realisiert werden.

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Lesetipp: Unsere allgemeine Analyse zu den Ergebnissen und potenziellen Konfliktpunkten der energie- und klimapolitischen Agenda der zukünftigen deutschen Bundesregierung finden Sie hier.

 

 

[1] Kraftwerksliste Bundesnetzagentur (bundesweit; alle Netz- und Umspannebenen) Stand 15.11.2021

[2] BDEW: Entwicklung des Erdgasabsatzes in Deutschland, Stand 13.12.2021

[3] Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021, S. 57