Die Ziele des neuen Klimaschutzgesetzes haben es in sich. So müssen die CO2-Emissionen der Energiewirtschaft im Jahr 2030 auf 108 statt wie bisher geplant 175 Millionen Tonnen (Mt) sinken. Die neuesten Modellierungen von Energy Brainpool zeigen, dass eine solche Reduktion nur mit einem vorgezogenen Kohleausstieg gelingen kann. In diesem Beitrag führen wir durch die wichtigsten Erkenntnisse der Berechnungen.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht das bisherige Klimaschutzgesetz Ende April 2021 für teilweise verfassungswidrig erklärt hat, ging es auf einmal sehr schnell. So hat das Bundeskabinett eine Novelle des Klimaschutzgesetzes nur zwei Wochen später am 12. Mai 2021 verabschiedet.

Unter anderem haben die Politiker neue sektorale Klimaschutzziele bis 2030 beschlossen, aber auch konkrete Emissionsminderungen nach 2030. Insbesondere sollen sich die Treibhausgasemissionen Deutschlands bis 2030 um 65 Prozent reduzieren anstatt wie bisher um 55 Prozent gegenüber 1990. Damit reagiert die Bundesregierung gleichzeitig auf die Verschärfung der Klimaziele auf EU-Ebene, welches ein höheres Engagement der Mitgliedsstaaten nach sich ziehen muss.

Verstärkte Ambitionen im neuen Klimaschutzgesetz

Grundsätzlich haben die Beteiligten die Ambitionen in allen Sektoren erhöht, unter anderem Verkehr, Gebäude, Industrie und Landwirtschaft. Die Energiewirtschaft, maßgeblich geprägt von der öffentlichen Strom- und Wärmeerzeugung, muss bis 2030 jedoch die stärksten Emissionsminderungen schaffen.

Schließlich wird sie durch die zunehmende Sektorenkopplung und Elektrifizierung der Wirtschaft immer mehr zum Hauptakteur, um in anderen Sektoren Emissionen zu reduzieren. Abbildung 1 stellt die Emissionsminderungspfade der verschiedenen Sektoren bis 2030 dar.

sektorale Emissionsminderungspfade nach dem neuen Klimaschutzgesetz in Mio. Tonnen CO2-Äq. (energiewirtschaftliche Minderungen zwischen 2020 und 2030 linear interpoliert) (Quelle: Energy Brainpool).

Abbildung 1: sektorale Emissionsminderungspfade nach dem neuen Klimaschutzgesetz in Mio. Tonnen CO2-Äq. (energiewirtschaftliche Minderungen zwischen 2020 und 2030 linear interpoliert) (Quelle: Energy Brainpool)

Mit 108 Mt energiewirtschaftlicher Emissionen in 2030 bedeutet das neue Gesetz – im Vergleich zum bislang anvisierten Zielkorridor von maximal 175 bis 183 Mt – stärkere Emissionseinsparungen in Höhe von mindestens 67 Mt.

Dabei wurde eine Frage bisher offengelassen: Wie kann der Energiesektor diese verstärkte Emissionsreduktion erreichen? Inwiefern muss der Kraftwerkspark zur Strom- und Wärmeversorgung angepasst werden? Insbesondere bei der Stromerzeugung besteht großes Potenzial. Die Ergebnisse zweier möglicher Szenarien für eine Zielerreichung stellen wir im Folgenden vor.

Vergleich zum bisherigen Fahrplan der Bundesregierung

Zieht man den bisherigen Fahrplan der Bundesregierung für den deutschen Strommarkt heran, ergibt sich folgendes Bild: Der Kohleausstieg erfolgt bis 2038. Im Jahr 2030 sind noch 17 GW Kohlekraftwerksleistung am Markt. Der Anteil erneuerbarer Energien (EE) am Bruttostromverbrauch soll 65 Prozent betragen.

Die Stromnachfrage soll gemäß Prognosen der Bundesregierung im Vergleich zu heute nur mäßig steigen (600 TWh). Allerdings gehen die meisten Marktteilnehmer aufgrund der Sektorenkopplung jedoch von einer steigenden Nachfrage aus. Daher haben wir daher eine moderat erhöhte Nachfrage von 680 TWh modelliert.

Selbst unter der Annahme steigender CO2-Preise (70 EUR/t in 2030) zeigen Berechnungen mit unserem fundamentalen Strommarktmodell Power2Sim: Das neue Klimaziel von 108 Mt kann mit diesem Fahrplan nicht erreicht werden. Die Energiewirtschaft emittiert immer noch 160 Mt in 2030.

Ein vorgezogener Kohleausstieg wird unausweichlich

Deshalb haben wir zwei Strommarktszenarien berechnet, wie das neue Klimaziel zu erreichen sein kann:

Erstes Szenario: nur vorgezogener Braunkohleausstieg

Um möglichst schnell möglichst hohe Emissionsminderungen zu erreichen, liegt es nahe, im ersten Schritt bei den emissionsintensivsten Kraftwerken ansetzen: Würde im gesamten Jahr 2030 keine Braunkohle (BK) mehr zur Stromerzeugung verfeuert und stattdessen teilweise durch andere Technologieoptionen ersetzt, so sänken die Jahresemissionen bereits auf 118 Mt CO2-Äq.

Der Braunkohleausstieg würde also auf 2029 vorgezogen, die Steinkohle ginge erst 2038 vom Netz. Wird zusätzlich der Zubau von Wind- und Solarkraftwerken stärker vorangetrieben und ein EE-Anteil von 75 statt 65 Prozent erreicht, so kann das Sektorziel von 108 Mt erfüllt werden (Szenario „75 % EE, BK-Ausstieg 2029“).

Zweites Szenario: vollständig vorgezogener Braun- und Steinkohleausstieg

Alternativ würde auch ein vollständiger Kohleausstieg, also ein Ausscheiden aller Braun- und Steinkohlekraftwerke aus dem Markt bis 2029, dieses Ziel erreichen (Szenario „65 % EE, Kohleausstieg 2029“). In Abbildung 2 sind die Emissionen der Energiewirtschaft im Jahr 2030 in den unterschiedlichen Szenarien dargestellt. Die Grafik macht deutlich: Um einen schnelleren Kohleausstieg kommen wir nicht herum.

energiewirtschaftliche Emissionen 2030 nach unterschiedlichen Szenarien in Mio. Tonnen CO2 (Quelle: Energy Brainpool)

Abbildung 2: energiewirtschaftliche Emissionen 2030 nach unterschiedlichen Szenarien in Mio. Tonnen CO2 (Quelle: Energy Brainpool)

Versorgungssicherheit bei vorgezogenem Kohleausstieg: Mehr Flexibilität im Stromsektor nötig

Wird der Kohleausstieg wie in den oben beschriebenen Szenarien ganz oder teilweise vorgezogen, entsteht ein erhöhter Bedarf an erzeuger- und verbraucherseitigen Flexibilitätsoptionen.

Im Falle des auf Ende 2029 vorgezogenen Braunkohleausstiegs werden – trotz der Stromimportmöglichkeiten aus Nachbarländern – rund 11 GW an Flexibilität aus Speichern, Demand-Side-Management (DSM), der Netzreserve oder zusätzlichen Gaskraftwerken benötigt. Dies ist relevant, um die Versorgungssicherheit in jeder Stunde zu gewährleisten.

Beim vollständigen Kohleausstieg bis 2029 erhöht sich dieser Wert auf 16 GW. Obige Emissionsberechnungen basieren auf der Annahme, dass gut 5 GW durch Speicher, DSM und Netzreserve gedeckt werden. Der Rest wird jeweils durch zusätzliche Gaskraftwerksleistung bereitgestellt.

Da sich die Zeiträume mit diesem erhöhten Bedarf in unseren Beispielszenarien auf wenige Stunden beschränken, könnten Speicher oder DSM hier sogar eine noch stärkere Rolle spielen. Dies würde die Emissionen (aus Gaskraftwerken) weiter reduzieren. Für genauere Aussagen zu Umfang und Art der benötigten Flexibilitäten bedarf es einer weiterführenden Untersuchung.

Verdrängungseffekt erneuerbarer Energien im Stromsektor: Speicher zunehmend notwendig

Abbildung 3 zeigt die in 2020 installierte Leistung der Photovoltaik (PV) und Windenergie sowie die jeweils benötigte Leistung in 2030 für die beiden Kohleausstiegsszenarien. Insbesondere für den Fall, dass lediglich der Braunkohleausstieg vorgezogen wird, ergeben sich deutlich höhere Ausbauziele als bisher vorgesehen. So müssten bis 2030 jährlich 10 statt 7 GW PV, 1,7 statt 1,2 GW Offshore-Wind und 4,1 statt 2,9 GW Onshore-Wind netto zugebaut werden, um das energiewirtschaftliche Sektorziel zu erreichen.

installiere Leistung Photovoltaik (PV), Wind Onshore und Offshore in 2020 sowie in 2030 je Szenario (Quelle: Energy Brainpool)

Abbildung 3: installiere Leistung Photovoltaik (PV), Wind Onshore und Offshore in 2020 sowie in 2030 je Szenario (Quelle: Energy Brainpool)

Erneuerbare Energien: wichtig für CO2-arme Sektorenkopplung

Eine Entwicklung spielt hier eine für den Klimaschutz wichtige Rolle: der Anstieg der Stromnachfrage durch neue Verbraucher im Zuge der Sektorenkopplung mit Verkehr, Industrie und Gebäude. In beiden Szenarien gehen wir von einem Bruttostromverbrauch von rund 680 TWh in 2030 aus. Dabei entfallen rund 60 TWh auf flexible Verbraucher wie die Elektromobilität, Wärmepumpen und Wasserstoff-Elektrolyseure.

Diese Annahmen basieren im Wesentlichen auf dem Netzentwicklungsplan 2030 der Bundesnetzagentur. Sie werden vielerorts jedoch als zu niedrig angesehen. Erfolgt die Sektorenkopplung schneller, werden in gleichem Maße mehr zusätzliche EE-Kapazitäten notwendig sein, um den neuen Bedarf möglichst CO-arm zu decken. Die Rolle der EE-Anlagen wandelt sich in Zukunft also vom Verdränger fossiler Erzeuger im Strombereich hin zum Enabler von Emissionseinsparungen in gekoppelten Sektoren.

Dabei gilt: Je flexibler diese Verbraucher ihren Strombezug steuern, desto stärker können sie diesen auf Stunden mit hohen EE-Anteilen im Stromnetz fokussieren. Aufgrund des Merit-Order-Effekts der erneuerbaren Energien sind diese Stunden am Strommarkt die preisgünstigsten. In der Folge profitieren flexible Verbraucher besonders stark von erhöhten EE-Anteilen. Umgekehrt unterstützt ein ambitionierter EE-Zubau Emissionsreduktionen in den zunehmend an den Strommarkt gekoppelten Sektoren Gebäude, Verkehr und Industrie besonders stark.

Ein Beispiel: Im Vergleich zum Szenario mit vollständigem Kohleausstieg, das niedrigere energiewirtschaftliche Gesamtemissionen aufweist (104 vs. 108 Mt), sinkt die CO2-Intensität des Strombezugs von Elektrolyseuren um 6 Prozent auf 0,065 t CO2/MWh im Szenario mit 75 Prozent EE-Anteil und lediglich beschleunigtem Braunkohleausstieg.

Emissionsminderungseffekte eines weiteren EE-Zubaus bei hohen EE-Marktanteilen mit und ohne umfangreichen Markthochlauf von Stromspeichern (Quelle: Energy Brainpool)

Abbildung 4: Emissionsminderungseffekte eines weiteren EE-Zubaus bei hohen EE-Marktanteilen mit und ohne umfangreichen Markthochlauf von Stromspeichern (Quelle: Energy Brainpool)

Mit unseren neuesten Modellierungen zeigen wir Optionen für einen Weg in ein klimakompatibles Energiesystem. Kontaktieren Sie uns gerne, wenn Sie weiterführende Fragen haben oder detaillierte Fragestellungen analysieren wollen. Wir hoffen unsere Analyse hilft bei der Entscheidung für eine effektive Politik zur Erreichung der neuen Klimaziele bis 2030.