Die Energiebranche wird von einer Menge Trends und Buzzwords, wie beispielsweise agile, überflutet. Oft ist es nicht leicht, zu unterscheiden: Was ist Hype und was ein nachhaltiger Trend zur Veränderung? Es ist jedoch sicher, dass der Wandel der Energiemärkte mehr umfasst, als lediglich den Umbau von steuerbarer, fossiler zu fluktuierender, erneuerbarer Energieerzeugung. Dies macht auch neue Formen der Organisation und Führung notwendig.

Die ganze Welt wandelt sich im Zeitalter des Wissens

Nicht nur der Wandel des Energiemarktes vollzieht sich in rasendem Tempo und oft mit großer Komplexität und Unsicherheit. Unser Zeitalter des Wissens mit globalisierten Märkten wird insgesamt durch wachsende Dynamik bestimmt. Wenn wir in weiteren zehn Jahren zurückblicken, werden uns die Entwicklungen der ersten 20 Jahre des neuen Millenniums wie im Schneckentempo vorkommen. Abbildung 1 fasst es übersichtlich zusammen: Hohe Dynamik und Komplexität sind weder gut oder schlecht. Sie sind ein historischer Fakt.

Abb. 1: historischer Überblick über die Wertschöpfung (Niels Pfläging: Organisation für Komplexität), agile, Energy Brainpool

Abb. 1: historischer Überblick über die Wertschöpfung (Niels Pfläging: Organisation für Komplexität)

In der aktuellen Stadtwerkestudie 2019 des bdew betonen die Autoren bereits in der Zusammenfassung:

„So kann die vermeintliche Chance und Gelegenheit für neue Geschäftsmodelle und nachhaltiges Wachstum auch zu einem Risiko werden, nämlich dann, wenn die Veränderung hin zu einer agilen und innovationsfördernden Unternehmenskultur bei Energieversorgern nicht ganz oben auf der Agenda steht.“

Doch was bedeutet „agile Unternehmenskultur“ und warum wird diese agile Kultur heute mehr benötigt als bisher? Und vor allem: wann und wo?

Die Frage stellen sich heute viele Menschen, egal ob Führungskraft oder Mitarbeiter:in. Sie kann jedoch nicht allgemeingültig beantwortet werden. Denn Agilität hat keinen Selbstzweck an sich, sondern ist ein Mittel zum Ziel. Daher muss man die Frage auf mehrere erweitern:

  • In welchen Bereichen stehen wir vor komplexen Herausforderungen? Wo passt Selbstorganisation und wo nicht?
  • Welche Menschen arbeiten dort? Haben diese das nötige Wissen, die notwendigen Fähigkeiten und die richtige Mentalität dafür?
  • Welche Methoden und Werkzeuge unterstützen diese Menschen am besten bei Ihrer Arbeit?

Es gilt zunächst, die richtige Balance zwischen dem Bedürfnis nach (Planungs)-Sicherheit und Flexibilität zu finden.

  • Wo gibt es ein stabiles Umfeld und wo können mit dem Wissen von heute robuste Entscheidungen gefällt werden?
  • Und wo muss auf sich permanent ändernde Situationen schnell und flexibel reagiert werden?
Eine erste Daumenregel

Daraus ergibt sich bereits eine erste Daumenregel zum Thema Agilität: Dort, wo es komplexe, das heißt komplizierte und unsichere, Herausforderungen gibt, sind agile Methoden überlegen. In anderen Bereichen kann weiterhin mit herkömmlichen Mitteln gearbeitet werden.

Was hat der Bau einer Brücke und die Gestaltung einer Website mit Energieunternehmen zutun?

Ein Beispiel: Der Bau einer Brücke ist sicher nicht ohne Herausforderungen. Start und Ziel sowie Funktion sind jedoch klar definiert und es ist nicht zu erwarten, dass sich diese Anforderungen im Laufe des Baus grundlegend verändern.

Auch wenn es nicht ausgeschlossen ist, dass sich auch hier mit agilen Methoden noch bessere Ergebnisse erzielen lassen, belegen unzählige Bauwerke, dass diese Aufgabe mit herkömmlichen Prozessen, Projektmanagement-Tools und Organisationsformen erfolgreich lösbar ist.
Auch in Energieunternehmen gibt es Bereiche wo geradezu fabrikähnlich gearbeitet wird. Hier sind agile Prozesse wahrscheinlich nicht die richtige Antwort.

Grundlegend anders sieht es jedoch bei der Gestaltung einer neuen Website aus. Hier verändern sich die Anforderungen, Ziele, Funktionen, Design und Kundenwünsche im Laufe des Projektes permanent. Der ganze Prozess ist von Unsicherheit und Komplexität geprägt.
So ist es kein Zufall, dass der Begriff der Agilität, wie wir ihn heute nutzen, in der Softwareentwicklung entstanden ist, erstmals zusammengefasst 2001 im Agilen Manifest.

Bis heute findet man agile Ansätze vor allem im IT-Bereich und die Angebote an Schulungen und Literatur zum Thema haben oft einen starken Bezug zur IT- und Start-up- Welt. Das führt oft dazu, dass agiles Arbeiten mit dem Einsatz dort üblicher, agiler Werkzeuge wie SCRUM oder Design Thinking verwechselt wird.

Agilität ist jedoch vorrangig eine Frage der Haltung und der Kultur, die sich ggf. durch den Einsatz passender Mittel optimieren lässt. Agiles Arbeiten bedeutet einen iterativen Prozess mit permanenter Veränderung zu etablieren, um mehr Transparenz, Fokussierung und Priorisierung zu erreichen.

Das Herz der Agilität

Dr. Alistair Cockburn, einer der Mitautoren des Manifests, reduziert das Herz der Agilität auf vier Grundsätze:

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Abbildung 2: das Herz der Agilität, Quelle: heartofagile.com

  • Arbeiten Sie eng mit anderen zusammen, um bessere Ideen zu entwickeln. Kommunizieren Sie oft, um Übergänge zu erleichtern.
  • Liefern Sie zunächst kleine Testversionen, um zu erfahren, wie die Welt wirklich funktioniert. Erweitern Sie die Lieferungen, während Sie lernen, die Ergebnisse vorherzusagen und zu beeinflussen.
  • Reflektieren Sie regelmäßig auf dem Weg dorthin. Denken Sie darüber nach, was Sie in Ihrer Zusammenarbeit und aus Ihren Lieferungen gelernt haben.
  • Verbessern Sie die Ausrichtung Ihrer Ideen, deren technische Umsetzung und Ihre internen Prozesse.

Aus unserer Erfahrung ist die Basis eines nachhaltigen Erfolgs agiler Methoden jedoch eine Haltung, die noch deutlich darüber hinausgeht. Sie hinterfragt viele gängige Annahmen in Bezug auf Menschen, Zusammenarbeit und Motivation.

Warum müssen wir unsere Haltung überhaupt ändern?

Forschung wie Erfahrung zeigen, dass herkömmliche Methoden der Führung und der Zusammenarbeit bei komplexen Herausforderungen oft versagen. Die Lösung komplizierter Aufgaben in einem unvorhersehbaren Kontext erfordert lernende System und schnelle Adaption. Dies ist nur mit Selbstorganisation und möglichst autonom arbeitenden Menschen möglich. In vielen Branchen und Disziplinen ist der Faktor Geschwindigkeit heute derart entscheidend, dass Unternehmen mit herkömmlichen, hierarchischen Prozessen einfach scheitern.

Matrix der Teamarbeit (Quelle: Becher, Fabian (2016) Teamarbeit), agile, Energy Brainpool

Abbildung 3: Matrix der Teamarbeit (Quelle: Becher, Fabian (2016) Teamarbeit)

 

Während Kompliziertes vorhersagbar agiert und daher kontrollierbar ist, erzeugt Komplexes immer wieder Überraschungen. Komplexität kann daher weder reduziert noch gemanagt werden.

Den Umgang mit Komplexität beherrscht bisher allein der Mensch mit seinen Lösungsfähigkeiten. Problemlösungen in einem lebendigen System können daher nicht über Anweisungen, sondern nur über Kommunikation erfolgen.

Je komplexer die Herausforderungen sind, desto ungeeigneter erscheinen herkömmliche Hierarchien, da Wissen und Kreativität oft nicht zentral im Management, sondern im Unternehmen verteilt zu finden sind.

Solche Systeme benötigen daher die Fähigkeiten, eigenverantwortlich zu handeln, mit anderen zusammenzuarbeiten, flexibel zu bleiben, mit Unsicherheit umgehen zu können, Fehler zu erlauben, Verschiedenheit als Bereicherung zu empfinden und Veränderungen früh zu erkennen. Es bedeutet nicht zwingend, dass es gar keine führenden Rollen mehr gibt.

Eine Organisation benötigt weiterhin auch Menschen, die Visionen entwickeln, Prozesse steuern und den Rahmen vorgeben. Sie müssen außerdem einen Weg finden, das natürliche Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung zu befriedigen, auch wenn alles im Fluss ist.

Das Menschenbild in einer modernen Organisation

Wie geht das und können und wollen Menschen überhaupt so arbeiten? Im Folgenden sind zwei Theorien bezüglich arbeitender Menschen gegenübergestellt, wobei Theorie X eher der klassischen Haltung entspricht und Theorie Y ein Menschenbild beschreibt, das grundlegend in einer modernen, dynamischen und dezentraleren Organisation ist.

Menschenbilder in Organisationen - Vergleich von 2 Modellen, agile, Energy Brainpool

Abbildung 4: Menschenbilder in Organisationen – Vergleich von 2 Modellen (Niels Pfläging, Organisation für Komplexität – McGregors Theorien)

 

 

Die Erfahrung zeigt jedoch auch, dass nicht alle Menschen sich in einem agilen Arbeitsumfeld wohlfühlen. Dies bedarf eine hohe Bereitschaft zur Selbst- und Fremdreflexion.

Das Gelingen agiler Arbeit hängt vor allem auch von den inneren Fähigkeiten der Mitarbeiter:innen ab und Ihrem Willen, zu lernen und sich zu entwickeln:

  • Was motiviert sie? 
  • Können sie Situationen richtig bewerten und alleine oder in Abstimmung passende Entscheidungen fällen?
  • Wie belastbar sind sie in Krisen?
  • Wie gut können sie bei Konflikten kommunizieren?
  • Sind sie neugierig?

Es lohnt sich herauszufinden, welcher Grad an Agilität und Selbstorganisation zu verschiedenen Bereichen und Menschen passt. Ich bin sicher, einige Ihrer Kolleg:innen werden Sie überraschen! Meine haben mich sehr überrascht!

Unsere eigene Erfahrung mit agiler Transformation

Seit Anfang 2019 haben wir in wenigen Monaten Energy Brainpool gemeinsam zu einem noch dynamischeren und dezentraler strukturierten Unternehmen umgebaut. Und die Ergebnisse haben uns begeistert. Heute arbeiten wir effizienter und effektiver und oft mit mehr Freude.

Workshop bei Energy Brainpool, agile

Abbildung 5: Workshop bei Energy Brainpool

Es ist großartig zu sehen, wie viele Kolleg:innen in ihren neuen, verantwortungsvolleren Rollen förmlich aufblühen. Und unsere Kunden freuen sich, dass sie Lösungen schneller erhalten, die ihren Bedürfnissen mehr entsprechen.

Natürlich war der Weg auch anstrengend und nicht ohne Konflikte. Und ganz im Sinne der Agilität geht der Wandel nun immer weiter und ist bei Leibe nicht abgeschlossen.  Aber keiner von uns würde wohl in die alte Welt zurückwollen.

Wir glauben bei Energy Brainpool generell wenig an allgemeingültige Rezepte, sondern an individuelle Lösungen. Jede Organisation kann und muss die für sich richtige Balance aus Struktur und Flexibilität finden.

Für viele Unternehmen können individuelle Mischungen aus hierarchischen und selbstorganisierten Systemen Sinn ergeben. Dort jedoch, wo wir die Notwendigkeit für agiles Arbeiten in komplexen Situationen erkennen, ist es erforderlich, die bisherige Organisation und Zusammenarbeit zu hinterfragen und anzupassen.

Bei der Begleitung der Transformation unserer Kunden greifen wir nicht nur auf unser Fachwissen als Coaches, Agile Facilitator und Scrum Master zurück, sondern bringen unsere persönlichen Erfahrungen aus der Transformation von Energy Brainpool hin zu einem beziehungsorientierten, dynamischen Unternehmen mit ein.

Lesen Sie hier Teil 2 unserer Serie über Agilität.

Erfahren Sie mehr in unserem Live-Online-Workshop: Agilität im Energiemarkt am 8. & 10. Dezember 2020.